Die vielen Aspekte von Gewalt

Als oberster Grundsatz muss gelten:

Gewalt ist eine Verletzung der Menschenrechte und strafbar.

Gewalt hat viele Gesichter und betrifft alle Altersgruppen. Ältere Menschen, vor allem wenn sie hilfsbedürftig oder an Demenz erkrankt sind, sind besonders verletzlich, da sie sich nur selten wehren oder über ihre Erfahrungen nicht sprechen können und wollen. Häufig schämen sie sich für das, was ihnen geschieht.

Es ist schwierig, eine allgemein gültige und anerkannte Definition von Gewalt zu formulieren. Es hängt von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen, der Erziehung und von persönlichen Werthaltungen ab, was Menschen als Gewalt wahrnehmen oder beurteilen.

Direkte körperliche Gewalteinwirkung, die Blutergüsse, blaue Flecken, gebrochene Gliedmaßen oder blutende Verletzungen zur Folge hat, ist deutlich zu sehen und wird von jeder und jedem als Gewalt wahrgenommen.

Hingegen bleiben Hilflosigkeit, Angst, Beschämung oder Zerstörung des Selbstwertgefühls als Folgen seelischer Misshandlungen von der Außenwelt häufig unerkannt, da Abwertung, Respektlosigkeit oder Drohungen meist im Verborgenen geschehen.

Wenn Betreuungspersonen ihre Aufgaben vernachlässigen, indem sie notwendige Betreuungs- oder Hilfeleistungen wie Nahrung, Flüssigkeit, ausreichende Bewegung oder Körperpflege verweigern oder unterlassen, hat das nachhaltige Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden der älteren betreuungsbedürftigen Menschen.

Intime und körperliche Übergriffe durch aufgedrängte Nähe oder sexuelle Belästigung lösen bei den Betroffenen Gefühle von Scham und Ohnmacht aus.

Alte Dame wird an Haaren gezerrt.

Auch die Einschränkung des freien Willens bedeutet Gewalt. Dabei wird dem älteren Menschen sein Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung genommen, indem andere Personen darüber entscheiden, was „gut für ihn ist“ und über seinen Konsum von Speisen und Getränken, seine Aktivitäten und seine Haushaltsführung bestimmen.

Von finanzieller Ausbeutung spricht man dann, wenn eingesetzte Vertrauenspersonen über die finanziellen Mittel des alten Menschen bestimmen, ohne seine Bedürfnisse zu erfüllen oder unangemessene finanzielle Forderungen gestellt bzw. erzwungen werden.

Gewalthandlungen finden sowohl im Privathaushalt unter Familienangehörigen als auch in Institutionen statt. Sie können aber auch unter älteren Menschen selbst vorkommen.

Gewalt wird auch nicht selten gegen Betreuungspersonen ausgeübt. Die Grenzen zwischen Opfer und Täter:in sind oftmals fließend. Formen von Gewalt können einander überlappen: finanzielle Ausbeutung oder Einschränkung des freien Willens bedeuten oftmals auch emotionale oder seelische Gewalt.

Es gibt eine Reihe von Auslösern für gewalttätiges Handeln oder gewaltgeneigte Situationen: Überforderung und Hilflosigkeit gehören dazu, ebenso wie starke wirtschaftliche oder emotionale Abhängigkeiten voneinander. Betreuende Angehörige leiden darunter, dass soziale Kontakte weniger werden und fühlen sich von der Außenwelt isoliert. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, kann Aggressionen erzeugen und gewaltauslösend wirken.

Alter Mann freut sich über Süßigkeite

Das Gewaltdreieck

Mit dem Gewaltdreieck – entwickelt von Rolf Hirsch nach Johan Galtung – lassen sich der Zusammenhang zwischen geltenden Werten einer Gesellschaft und gewaltbehaftetem Handeln zeigen.

Es definiert drei Ebenen der Gewalt:

Die kulturelle Ebene ist in den Werten einer Gesellschaft, den gültigen Rollen- und Leitbildern, den Vorurteilen gegenüber alten Menschen und in der Sprache verankert. Diese Phänomene legitimieren das Vorkommen von Gewalt.

Die strukturelle Ebene zeigt, wie sich Gewalt in der Sozialstruktur wiederfindet, wie Normen und Richtlinien zu ungleichen Lebenschancen oder bestimmte Maßnahmen zur Unterdrückung einzelner gesellschaftlicher Gruppen führen. Das Vorhandensein von Vorschriften rechtfertigt das Gewaltvorkommen als notwendig und unabwendbar.

Auf der personalen Ebene finden sich gewalttätige Handlungen der einzelnen Akteurinnen und Akteure gegen andere.

Beispiel 1

Kulturelle Ebene: Die Sprache ist ein wesentliches Gestaltungsmittel unseres sozialen Lebens, die verwendeten Begriffe formen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Finden sich diskriminierende, respektlose, herabwürdigende Begriffe oder Zuschreibungen für ältere Menschen in den Medien und werden sie allgemein akzeptiert, hat das die Erlaubnis zu tatsächlich benachteiligenden Maßnahmen oder Regelungen zur Folge. Begriffe wie Altenlawine oder demographische Belastungsquote beschreiben alte Menschen bzw. die staatlichen Ausgaben für sie als Naturgewalt, gegen die sich die jüngere Bevölkerung schützen muss.

Strukturelle Ebene: Damit fällt es leicht, die Notwendigkeit finanzieller Einsparungen zu begründen und diese über Tariferhöhungen, Leistungskürzungen etc. vorzunehmen.

Personale Ebene: Mangelnde finanzielle Mittel verhindern die soziale Teilhabe älterer Menschen, wenn bspw. die Möglichkeiten von begünstigten Taxifahrten zu kulturellen oder sozialen Veranstaltungen begrenzt oder abgeschafft, oder zu wenige Stunden für Dienstleistungen genehmigt werden.

Beispiel 2

Kulturelle Ebene: Wenn in einer Gesellschaft die Rolle der Frau so definiert ist, dass sie in ihrer Familie erste Ansprechpartnerin und Zuständige für die Betreuung und Pflege älterer Familienmitglieder ist, wird sie im Anlassfall ihre eigene berufliche Weiterentwicklung zurückstellen müssen, um die Sorgearbeit zu übernehmen.

Strukturelle Ebene: Pflegefreistellungen sind begrenzt, Berufstätigkeit muss aufgegeben werden, was u.a. Auswirkungen auf die soziale Absicherung für das eigene Alter hat. Kosten für Kurzzeitpflege sind hoch (Regelung der Sozialhilfeträger) und können nicht von allen in Anspruch genommen werden.

Personale Ebene: Die Zuständigkeit landet in der Familie, vor allem bei den weiblichen Familienmitgliedern. Das führt zu Frustration, wirtschaftlichen Einbußen, Abhängigkeiten und kann psychische (Ungeduld, anschreien, isolieren, Respektlosigkeit, …) oder körperliche Gewalt auslösen.

Beispiel 3

Kulturelle Ebene: Der umsichtige Umgang mit Steuergeld ist oberstes Prinzip in der öffentlichen Verwaltung. Dies hat auch Auswirkungen auf die Planung von Alten- und Pflegeheimen. Auch das gesellschaftliche Bild von alten Menschen, die in einem Alten- und Pflegeheim leben, fließt in diese Planungen ein.

Strukturelle Ebene: In vielen Heimverordnungen ist festgelegt, dass nicht zwingend Einzelzimmer mit einem eigenen Badezimmer gebaut werden müssen, da „die meisten Bewohner:innen nicht gerne allein sind“ und „das Bad gar nicht mehr nützen können“.

Personale Ebene: hochaltrige Menschen werden gezwungen, mit einem unbekannten Erwachsenen die intimsten Bereiche einer Wohnung – das Bad, die Toilette und den Schlafraum – zu teilen.